Jährlich findet – organisiert von der British Motor Neuron Disease Association (MNDA) ein international einzigartiges, mehrtägiges wissenschaftliches Symposium zu allen Aspekten der amyotrophen Lateralsklerose (ALS) statt. Das diesjährige Symposium fand in Birmingham statt. Eine Besonderheit des Kongresses liegt an dem freien Zugang für Patienten und Angehörige. Der Kongress bietet parallel klinische Sitzungen und wissenschaftliche Sitzungen an.
In den klinischen Sitzungen wurden mögliche Differentialdiagnosen zur ALS dargestellt. Großes Interesse fand die differenzierte Analyse des Krankheitsverlaufes aufgeteilt nach dem Betroffensein des oberen und/oder unteren Motoneurons. Klinische Sonderformen wie das so genannte Flail-arm- oder Flail-leg-Syndrom sind demnach in ihrem Verlauf durch die deutlich geringere Progression abgrenzbar. Eine sehr differenzierte Analyse eines großen Patientengutes aus zwei Zentren wurde vom Kings-College London vorgestellt. Der Vergleich der Zentren London und Melbourne zeigte ein sehr gleichartiges Bild mit ca. 30 % Anteil an ALS-Formen mit bulbärem Beginn, ca. 50 % ALS-Formen mit Extremitätenbeginn und 10 – 20 % der Erkrankungen mit reiner Beteiligung des unteren Motoneurons. Die Patienten mit reiner Beteiligung des unteren Motoneurons hatten eine 3-4-fach längere Periode bis zur Ausbreitung der Symptome auf eine andere Extremität (8 Monate zu 29 bzw. 32 Monate). Dementsprechend war auch die Lebenserwartung dieser Patienten deutlich höher. Ein weiterer Beitrag beschrieb klinische Charakteristika der anderen Sonderform von Motoneuronerkrankungen, die mit reiner Beteiligung des oberen Motoneurons, auch primäre Lateralsklerose, PLS, genannt: Es zeigte sich eine relativ geringe Progression der reinen PLS mit weitgehend guter Funktion, normaler Atemfunktion und ohne Gewichtsverlust. Von einer PLS kann weitgehend sicher ausgegangen werden, wenn vier Jahre nach Beginn der Erkrankung keine Zeichen einer Beteiligung des unteren Motoneurons in der Elektromyographie nachweisbar sind.
Mit großem Interesse wurden auch Berichte zu unterschiedlichen Umgangsformen mit der Erkrankung in unterschiedlichen Kulturen aufgenommen. In einer amerikanischen Studie konnte kein sicherer Unterschied der Lebensqualität zwischen Patienten, die regelmäßig in einer ALS-Spezialambulanz gesehen werden, und denen, die an anderer Stelle versorgt werden, gefunden werden. Dieser fehlende Unterschied wurde lebhaft diskutiert. Möglicherweise hat die Befragung über das Internet eine Vorauswahl verursacht. Denkbar ist auch, dass die Gesamtsituation von ALS-Patienten so komplex ist, dass die Betreuung in einer Spezialambulanz sich nicht in der Gesamtlebensqualität niederschlägt und dennoch wertvoll ist. Ein genereller Zweifel an dem Nutzen von ALS-Spezialambulanzen kann hieraus sicher nicht gezogen werden.
In Japan werden vergleichsweise mehr ALS-Patienten invasiv beatmet als in anderen Ländern. Oftmals wird von Nicht-Japanern vermutet, dass dies an einer eher direktiven Arzt-Patienten-Beziehung und einer geringeren Aufklärung der Patienten läge. Eine Arbeitsgruppe aus Japan eine stellte Details zur Aufklärung von Patienten und zu den Informationen, die in ihrer ALS-Klinik an die Patienten gegeben wurde, dar. Es zeigte sich, dass 96 % der Patienten eine gut informierte Entscheidung trafen. Davon wurden 17 % maschinell invasiv beatmet. Dies entspricht der durchschnittlichen Beatmungsfrequenz in Japan. Die Referenten vermuteten, dass die starke Patienten-Familien-Beziehung in Japan und die einfache Finanzierung die entscheidenden Faktoren für die hohe Beatmungsrate in Japan sind.
Eine holländische Arbeitsgruppe analysierte als Psychologin die deutlich entgegengesetzte Vorgehensweise in den Niederlanden. Diese ist geprägt durch die Möglichkeit zur Euthanasie und zum ärztlich unterstützten Suizid. Sie zeigte, dass in den Niederlanden eine hohe Raten von Patienten, insgesamt knapp 30 %, eine intensivierte Symptomerleichterung im Sinne einer spezifischen palliativen Behandlung erfährt. Nur insgesamt 17 % der Patienten wählen die Euthanasie oder den ärztlich assistierten Freitod. Sie zeigte, dass die Patienten, die palliativ-medizinisch behandelt wurden, sich von den Patienten, die die Euthanasie wählten, und von den Patienten, die weder/noch erhielten, sich in der verfügbaren Pflegeunterstützung, den medizinischen Möglichkeiten, der finanziellen Ausstattung, der Symptomkontrolle, der mentalen Unterstützung als auch den depressiven Symptomen nicht unterschieden. Allerdings zeigten Patienten, die die Euthanasie wählten, eine größere Hoffnungslosigkeit und starben häufiger zu Hause. Sie waren zudem weniger religiös und tendenziell höher gebildet. Zudem hatten sie eine größere Furcht davor, im Rahmen der Erkrankung zu ersticken. Diese Befunde zeigten sich in den letzten 15 Jahren weitgehend stabil, auch in Bezug auf die Verteilung. Die Untersuchungen sprechen dafür, dass Patienten in den Niederlanden nicht aus mangelnder Betreuung die Euthanasie wählen.
In den wissenschaftlichen Sitzungen wurden nur wenige Therapiestudien berichtet. Vorwiegend ging es um Grundlagenforschung. Eine sehr wichtige aktuelle Fragestellung ist die Klärung der Rolle des Proteins TDP43. Dieses Protein wurde als Ablagerung in den Nervenzellen von Patienten mit ALS gefunden. Bisher konnten alle Studien, die ALS-Patienten untersuchten, dieses Protein nachweisen. Dieses Protein wird jedoch auch bei anderen neurodegenerativen Erkrankungen gefunden, jedoch nicht in dieser Regelmäßigkeit. Die Funktion von TDP43 ist vielfältig und noch nicht vollständig verstanden. TDP43 ist als Transportprotein vom Zellkern in das Zytoplasma wichtig. Es kann ähnlich wie die mutierte SOD1 intrazelluläre Einschlüsse bilden. Allerdings konnte kein Zusammenhang zwischen dem Verteilungsmuster von TDP43 im Rückenmark mit der klinischen Symptomatik der untersuchten Patienten gefunden werden. Dies, als auch das Auftreten bei anderen neurodegenerative Erkrankungen, macht die Spezifität des Proteins für die ALS sehr fraglich.
Eine eigene Sitzung beschäftigte sich auch mit der Hypothese, dass als exogener Faktor ein Produkt von Zyanobakterien, das „PMAA“, zur Entstehung der ALS beitragen könnte. Ursprünglich rückte das PMAA ins Interesse der Forscher, da es in Guam eine eindeutige Häufung von ALS-Erkrankungen gibt. Dies konnte zurückgeführt werden auf ein Nervengift, das BMAA, das ursprünglich von Bakterien produziert, biologisch durch verschiedene Schritte (Pflanzen, Tiere) angereichert wird und dann seine toxische Wirkung entfalten kann. Allerdings gibt es auch in anderen Stellen der Welt Abkömmlinge der Zyanobakterien. Auch von diesen produziertes BMAA wurde in Nahrungsmitteln und Wüstensand durch mehrere Laboratorien nachgewiesen. BMAA kann Motoneurone durch Aktivierung eines Glutamatrezeptores (AMPA-Rezeptor) schädigen, aber auch andere Mechanismen können zum Tragen kommen. BMAA wurde auch bei ALS-Erkrankten im Gewebe nachgewiesen. Hier ist auffallend, dass auch Patienten mit anderen neurodegenerativen Erkrankungen wie z. B. der Alzheimer-Erkrankung Spuren dieses Stoffes in sich tragen. Inwieweit BMAA wirklich eine klinische Bedeutung hat in der Entstehung der ALS, ist daher noch unklar. So verwenden auch Menschen in Südamerika das Mehl von Zykaden, das in Guam als ein Zwischenanreicherungsschritt gilt, ohne dass bisher eine Häufung von Erkrankungen in diesen Regionen gefunden wurde. Denkbar ist auch, dass nicht alle Menschen gleich empfindlich auf den Kontakt mit BMAA reagieren. Es könnte eine unterschiedliche Aufnahme und Ausscheidung von BMAA eine Rolle spielen, als auch ein unterschiedlicher Übertritt ins zentrale Nervensystem. Die Forschung bzgl. des Neurotoxins BMAA befindet sich noch am Anfang. Inwieweit konkrete Rückschlüsse für ALS-Patienten zu erwarten sind, ist noch offen.
Als einzige Therapiestudie im Sinne einer ursächlichen Therapie wurde eine kleine Studie mit Co-Enzym Q10 im Vergleich zu Placebo vorgestellt. Diese konnte keine eindeutige positive Wirkung von Co-Enzym Q10 nachweisen, war jedoch für eine endgültige Aussage sicherlich zu klein.
Die hier dargestellten Aspekte sind ein subjektiver Ausschnitt aus den vorgestellten Ergebnissen. Die Bedeutung des Treffens liegt nicht nur in der Mitteilung neuer Nachrichten, da hierzu auch andere Medien (Puplikation, Pressemitteilung etc.) möglich sind. Ein ganz wichtiger Aspekt liegt sicherlich auch in dem Aufbau von Beziehungen und Netzwerken, was diesen Kongress so wichtig für die weitere Forschung und klinische Betreuung von ALS-Patienten macht.