Vom 8.-10. Dezember 2005 fand in Dublin das von der britischen Motor Neurone Disease Association organisierte, jährliche Internationale Symposium über ALS und andere Motoneuronerkrankungen statt. Mit fast tausend Teilnehmern aus aller Welt war die Anzahl der Teilnehmer in Dublin erneut beeindruckend hoch und zeigt, dass auch in Zeiten kleinerer Budgets und häufiger Interesseneinengung auf „Volkskrankheiten“ mit hohen Patientenzahlen (wie dem Diabetes mellitus oder dem Schlaganfall) das Interesse an der Erforschung der ALS in aller Welt parallel ungebrochen ist. Die vorgestellten wissenschaftlichen Arbeiten zeigten, dass das Verständnis der Entstehung, Diagnostik und symptomatischen Therapie der ALS weiter fortschreitet.
In Hinsicht auf neue Therapien der ALS hatte der Kongress drei wesentliche Aspekte: 1. wurden kürzlich zwei Therapiestudien leider ohne Nachweis einer positiven Wirkung abgeschlossen. 2. wurden erste, kleine Studien zu weiteren Wirkstoffen mit sehr hoffnungsvollen Ergebnissen vorgestellt. Und 3. gibt es sehr sinnvolle Überlegungen wie Therapiestudien in Zukunft effektiver und vor allem schneller durchgeführt werden können.
Vorgestellt wurden in Dublin die Ergebnisse der Studie mit TCH346 und eine weitere Studie mit Kreatin.
Der Wirkstoff TCH346 der Firma Novartis kann experimentell den zelleigenen, programmierten Untergang von Nervenzellen (Apoptose) verlangsamen. Leider konnte in einer in den USA und Europa durchgeführten Studie kein positiver Effekt gezeigt werden, sodass dieses Medikament bei der ALS wohl nicht zum Einsatz kommen wird.
Kreatin ist ein Wirkstoff der energiereiche Moleküle transportieren kann und daher sowohl im Sport eingesetzt wird, aber auch als möglicher Energielieferant für Nervenzellen bei der ALS angesehen wurde. Nachdem bereits zwei Studien keinen positiven Effekt von Kreatin auf den Krankheitsverlauf der ALS gezeigt hatten, unersuchten amerikanische Neurologen, ob Kreatin den Gesamtverlauf der Erkrankung oder zumindest die Schwäche und Ermüdbarkeit der Muskeln bei ALS-Patienten positiv verändern kann. Die Studie zeigte weder für den Gesamtverlauf noch für die Ermüdbarkeit der Patienten eine positive Wirkung. Wesentliche Nebenwirkungen wurden wie zuvor nicht gesehen.
Großes Interesse finden derzeit entzündliche Vorgänge bei der ALS. Obwohl die ALS im Kern keine entzündliche Erkrankung ist, werden wohl in der Folge von ersten Nervenzelluntergängen entzündliche Vorgänge angestoßen. Diese könnten die Erkrankung verstärken und beschleunigen. Es erscheint daher sinnvoll diese Reaktion des Körpers zu bremsen. Zwei Medikamente, die bereits zur Behandlung der Multiplen Sklerose (MS), einer vorwiegend entzündlichen neurologischen Erkrankung, zugelassen sind (Interferon Beta 1a und Glatirameracetat), wurden in ersten Studien erfolgversprechend getestet und werden nun intensiver untersucht. Auch Thalidomid, als Schlafmittel sehr unrühmlich als Contergan bekannt geworden, hat entzündungshemmende Effekte. Zudem wird es gegen die Gewichtsabnahme bei AIDS- und Krebspatienten eingesetzt. PD Dr. Thomas Meyer wird in Berlin eine erste, sehr streng überwachte Studie mit Thalidomid bei wenigen ALS-Patienten durchführen.
Wissenschaftliche Studien zur Überprüfung von neuen Wirkstoffen, die eine sinnvolle Behandlung der ALS sein könnten, benötigen insbesondere im Vergleich zum Fortschreiten der Krankheit ALS relativ viel Zeit. Um die Zeit von einer Idee bis zu ihrer Überprüfung und eventuellen Verfügbarkeit für alle ALS-Patienten möglichst zu verkürzen, wurden intensive Überlegungen zu neuen Arten von wissenschaftlichen Studien in Dublin vorgestellt. Besonders viel versprechend könnten Studien sein, die Wirkstoffe gegeneinander vergleichen (anstatt gegen ein Schein-Medikament = Placebo) oder Studien, die mit neuen statistischen Verfahren analysiert werden (sequential trial design). Auch könnte es sinnvoll sein, Wirkstoffe zunächst bei ALS-Patienten mit besonders raschem Krankheitsverlauf zu testen, da sich in dieser Gruppe Effekte schneller abzeichnen sollten.
Darüber hinaus wurden viele Grundlagenerkenntnisse zur ALS in Dublin vorgestellt, ebenso wie Beobachtungen und Erfahrungen in der alltäglichen Betreuung von ALS-Patienten. Diese im Einzelnen zu referieren übersteigt die Möglichkeiten dieses Berichtes.
Ein großer Schritt in Bezug auf eine qualitativ hochwertige und einheitliche Behandlung von ALS-Patienten ist die Erstellung von detaillierten europäischen Empfehlungen für die Diagnose und Therapie von ALS-Patienten die von einer Expertengruppe der europäischen Föderation der Neurologischen Gesellschaften (EFNS) erstellt wurde. Die Empfehlungen wurden auf dem Kongress vorgestellt und kürzlich veröffentlicht (Andersen PM, Borasio GD, Dengler R, Hardiman O, Kollewe K, Leigh PN, Pradat PF, Silani V, Tomik B. EFNS task force on management of amyotrophic lateral sclerosis: guidelines for diagnosing and clinical care of patients and relatives. Eur J Neurol. 2005 Dec;12(12):921-38). Die 18-seitige (!) Darstellung umfasst eine präzise Darstellung der aktuellen Erkenntnisse und gibt zudem klare Hilfen für die praktische Behandlung. Diese Empfehlungen werden sicherlich die Versorgung von ALS-Patienten nachhaltig verbessern.
PD Dr. Martin Hecht
Neurologische Universitätsklinik Erlangen