Physiotherapie bei ALS

von Ina Watzek, Physiotherapeutin am Muskelzentrum Erlangen

Die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) ist eine der häufigsten neurodegenerativen Erkrankungen.
Die Diagnose ist für den Betroffenen und sein Umfeld ein schwerer Schicksalsschlag. Aufgrund der besonders schlechten Prognose besteht die Gefahr, dass bei allen beteiligten Personen der Eindruck “Da kann man nichts mehr machen“ entsteht.

Im Grunde ist dies aber eine Frage der Zielsetzung!
Die Physiotherapie vermag schnell und unmittelbar funktionelle Strategien und Hilfen anzubieten, die dem Betroffenen und seinen Angehörigen die Bewältigung des Alltages erleichtern. Damit stellt sie einen wesentlichen Bestandteil der symptomatischen Therapie dar.

Grundsätze der physiotherapeutischen Behandlung sowie deren Ziele und Inhalte

Die Diagnose ALS stellt an den Therapeuten besondere Anforderungen. Sind wir sonst, im normalen Berufsalltag, meist damit befasst Patienten zu aktivieren, zu mobilisieren, Muskulatur zu kräftigen und zu dehnen, bedarf es bei dieser Diagnose einigen Umdenkens.

Behandlungsgrundsätze

  • Erkrankungsprogredienz beachten
  • Vorrausschauende Therapieplanung
  • Wichtige Funktionen in den Therapiemittelpunkt stellen (z.B. Rumpffunktion, Atmung)
  • Akzeptanz von Funktionsverlusten
  • Leistungsgrenze des Betroffenen nicht überschreiten
  • Einbeziehung von Angehörigen, Pflegedienste usw.
  • Koordination mit anderen Therapeuten, um eine Therapieoptimierung zu erreichen.

Eine unabdingbare Vorraussetzung für eine zielgerichtete, effektive Therapie ist die Aufklärung des Patienten über die Erkrankung und ihren Verlauf durch den Arzt. Die Akzeptanz der Diagnose muss als ein Prozess angesehen werden, der sich über einen längeren Zeitraum erstreckt .
Gemeinsam mit dem Patienten sollen realisierbare Zielstellungen erarbeitet werden, die den Krankheitsverlauf berücksichtigen und seiner individuellen Lebenssituation gerecht werden.

Behandlungsinhalte der Physiotherapie bei ALS:

  • Optimierung von Bewegungsabläufen
  • Erarbeitung von Kompensationsstrategien
  • Aktivierung noch nicht betroffener Muskulatur (Rumpf)
  • Schulung der Körperwahrnehmung
  • Positive Beeinflussung der Atmung
  • Kontrakturprophylaxe
  • Muskelpflege überbeanspruchter Muskulatur
  • Tonusregulation
  • Beeinflussung der Spastik
  • Pneumonie- und Thromboseprophylaxe
  • Entstauung gestauter Extremitäten
  • Aktivierung physiologischer Reserven
  • Vermeidung von Sekundärerkrankungen insbesondere immobilitätsbedingter Schmerzen
  • Angepasste Hilfsmittelversorgung
  • Anleitung von Angehörigen
  • Motivation des Patienten

Empfehlungen zur Therapiegestaltung

Allgemein gültige Hinweise

Die ALS ist eine Erkrankung, bei der die betroffene Muskulatur oft an ihrer Leistungsgrenze arbeitet. Der eingetretene Kraftverlust hat seine Ursache nicht in einem Mangel an Bewegung, sondern im Untergang der nervalen Strukturen, die die Muskulatur innervieren.
Aus diesem Grunde ist ein forciertes Krafttraining nicht zu empfehlen. Eine maximale Belastung der geschwächten Muskulatur während der Therapie fördert die Muskelkrampfbereitschaft, führt zu Mikrotraumen der Muskulatur (Muskelkater) und zu Erschöpfungszuständen. Diese Kraftreserven sollen dem Betroffenen zur Bewältigung des Alltages zur Verfügung stehen und nicht während der Therapie verzehrt werden. Die Wahl der optimalen Reiz- und Belastungsdosierung ist zu jeder Behandlungseinheit neu und in der Kommunikation mit dem Patienten festzulegen.

Im Krankheitsverlauf werden sich immer wieder der Charakter und Inhalt der Therapie verändern. Gesetzte Ziele müssen in regelmäßigen Abständen auf ihre Realisierbarkeit hin überprüft und flexibel verändert werden. Es hat zum Beispiel wenig Sinn, an einem nicht mehr innervierten Fußheber zu arbeiten, während das Fortschreiten der Erkrankung ein stabiles Sitzen unmöglich macht.
Damit eine sinnvolle Therapieplanung erfolgen kann, ist es für den Therapeuten besonders wichtig, die Progredienzgeschwindigkeit zu erkennen und einen ganzheitlichen Ansatz zu finden.

Entsprechend der Fähigkeit des Patienten, durch eigene Muskelkraft die Schwerkraft zu überwinden, kann man den Verlauf grob in drei Phasen einteilen.

a) aktive Phase
Der Betroffene spürt erste Schwächen in den Körperregionen, wo die Erkrankung beginnt. Die Schwerkraft kann aber noch durch eigene Muskelkraft überwunden werden und alle Bewegungen sind aktiv möglich.

In dieser Phase stecken viele Potentiale, um die betroffene Muskulatur im Rahmen der sich bietenden Möglichkeiten zu aktivieren.
Durch die Schulung der Körperwahrnehmung kann der Patient eigene Leistungsreserven, aber auch Grenzen erkennen und die vorhandene Muskelkraft effektiv und zielgerichtet einsetzen. Durch die Erarbeitung von Kompensationsstrategien, z.B. beim Gehen, können die langsam verlorengehenden Funktionen teilweise ausgeglichen werden. Diese Bewegungsstrategien sind, im Gegensatz zu anderen Erkrankungen, zu fördern. Sie stellen oftmals die einzige Alternative dar, um den Alltag so lange wie möglich selbst bestimmend gestalten zu können.

b) Assistive Phase
Durch die Atrophien der Muskulatur kommt es zu immer schwereren Lähmungserscheinungen. Das Bild der funktionellen Beeinträchtigungen ist sehr unterschiedlich. Nach und nach bemerkt der Patient, dass auch andere Körperfunktionen betroffen sind.
Die in ihrer Kraft geminderte Muskulatur wird oft über einen langen Zeitraum an ihrer Leistungsgrenze belastet. Dies führt zu Fehlbelastungen,Verspannungen und einer Erhöhung des Tonus mit nachfolgenden Schmerzen. Regulierende Maßnahmen, wie Wärmeanwendungen Massagen und sanfte Dehnungen, haben hier durchaus ihre Berechtigung. Bei jeder Anwendung ist unbedingt die Dosierung zu beachten. Entspannt man die Muskulatur zuviel, kann das unter Umständen zu einer zeitweisen Funktionsverschlechterung führen.
Um aktive Bewegungen gegen die Schwerkraft auszuführen, benötigt der Patient Unterstützung. Das regelmäßige Bewegen der Gelenke und vorsichtige Muskeldehnungen verhindern Kontrakturen. Da die muskuläre Sicherung der Gelenke (vor allem des Schultergelenkes) stark eingeschränkt ist, dürfen die Bewegungen nur im schmerzfreien Bereich und nicht endgradig erfolgen.
In dieser Phase der Erkrankung empfiehlt es sich, die Angehörigen einzubeziehen und entsprechend anzuleiten. Diese können natürlich keine Therapie ersetzen, aber durch ein fachgerechtes Handling unterstützen. Des weiteren schützt der Angehörige durch die Kenntnis effektiver Transfertechniken nicht nur sich selbst, sondern auch den Betroffenen vor den Folgen eines unsachgemäßen Umgangs.

c) passive Phase
Zu diesem Zeitpunkt der Erkrankung sind die Paresen weit fortgeschritten. Eine aktive Bewältigung des Alltages ist für den Betroffenen nicht mehr möglich. Er benötigt rund um die Uhr Hilfe und Pflege durch Dritte. Hilfsmittel unterstützen Funktionen und ermöglichen es dem Betroffenen am Alltagsleben teilzunehmen. Die meiste Zeit des Tages verbringt er sitzend oder liegend. Nahrungsaufnahme, Kommunikationsfähigkeit und die Atmung sind in unterschiedlichem Ausmaß eingeschränkt oder gar unmöglich.
Im Mittelpunkt der Therapie stehen jetzt passive und palliative Maßnahmen, wie das wahrnehmungsorientierte Bewegen, Schmerzlinderung, Entspannung, Lagerung.

Therapie im Bereich der Extremitäten und des Rumpf

Wichtigstes Ziel der Behandlung im Bereich des Rumpfes und der Extremitäten ist es, die Vertikalisierung so lange wie möglich aufrechtzuerhalten, um vitale Funktionen, wie die Atmung und den Schluckakt, bestmöglich zu unterstützen. Dazu ist es erforderlich, die Kraft so lange wie möglich zu erhalten und Bewegungsabläufe zu optimieren. Bewährt haben sich ganzheitliche, funktionelle Therapieansätze, deren Ergebnisse der Patient anschließend gut in den Alltag integrieren kann.
Um Funktionsverluste auszugleichen, wird der Patient Kompensationsmechanismen wählen. Oft wird dabei zu viel Kraft eingesetzt. Durch die Schulung der Körperwahrnehmung lernt der Betroffene die vorhandene Kraft effektiv einzusetzen und eigene Leistungsgrenzen zu erkennen.
Die zunehmende Schwäche verändert das Gangbild. Die Mobilität des Rumpfes wird zugunsten der Stabilität eingeschränkt. Dies belastet vor allem die Wirbelgelenke in unphysiologischer Weise. Eine gezielte Mobilisation z.B. durch manuelle Techniken, vorsichtig ausgeführte Dehnungen der Muskulatur und vor allem viele rotatorische Bewegungskomponenten können sekundären Schmerzen vorbeugen. Die Halswirbelsäule soll mit in die Behandlung einbezogen werden, da deren Mobilität für das Schlucken von Nahrung wichtig ist.

Im Bereich der Extremitäten sind zu Beginn der Erkrankung oft noch Bewegungen gegen die Schwerkraft gegen Widerstand möglich. Für die betroffene Muskulatur sollen mäßige Belastungsdosierungen gewählt werden. Bei einer Zunahme der Schwäche können Ausgangstellungen so variiert werden, das die Aktivitäten mit der Schwerkraftwirkung erfolgen. Die Ausnutzung von Irradiationseffekten erschließt physiologische Reserven. Auch hier ist die allgemeine Belastungsfähigkeit des Patienten unbedingt zu beachten.
Die Abnahme der Eigenschwere im Schlingentisch ermöglicht viele Bewegungen, deren Ausführung sonst unmöglich wäre.
In gleicher Weise wirkt der Auftrieb des Wassers im Bewegungsbad. Vor Beginn der Therapie im Wasser ist durch den Arzt die kardiologische und besonders die pulmonale Belastbarkeit festzulegen.

Atemtherapie

Regelhaft ist, zu einem bestimmten Erkrankungszeitpunkt, die Atemmuskulatur von den Atrophien betroffen. Die fortschreitende Ateminsuffizienz und deren Folgen sind in vielen Fällen der lebensbegrenzende Faktor der ALS.
Daraus ergibt sich die große Bedeutung der Atemtherapie. Mit ihr soll in einem frühen Erkrankungsstadium begonnen werden, damit vorhandene Reserven optimal genutzen werden können. Bewährt hat es sich auch hier, einen ganzheitlichen Ansatz zu finden.
Ziel aller Maßnahmen ist es, die von der Atemmuskulatur aufzubringende Arbeit zu senken, die Wahrnehmung der Atmung durch den Patienten zu schulen sowie geschwächte Muskulatur zu stimulieren.
Ein großes Problem stellt das Abhusten von Sekret dar, weil die dazu erforderliche muskuläre Kraft nicht aufgebracht werden kann.
Auch für die Atemtherapie gilt, das jeder Therapeut die Techniken anwenden soll, die er am besten beherrscht.

Inhalt der Atemtherapie

  • Mobilisation von Rippen und Thorax
  • Senken von Gewebswiderständen
  • Atemwahrnehmung schulen
  • Stimulation schwacher Einatemmuskulatur
  • Vermittlung atemerleichternder Positionen
  • Sekretmobilisation
  • Erarbeitung von Hustentechniken

Beim Fortschreiten der respiratorischen Insuffizienz besteht grundsätzlich die Möglichkeit einer nichtinvasiven oder auch invasiven Beatmung. Das Vorranschreiten der Erkrankung wird dadurch aber nicht beeinflusst.

Kehlkopf, – Schlund, – und Kaumuskulatur
Eine Parese der Kehlkopf, – Schlund, – und Kaumuskulatur ist die Folge des Untergangs der motorischen Anteile der unteren Hirnnerven. Der Patient verliert die Fähigkeit verbal zu kommunizieren und Nahrung aufzunehmen.
Um die Therapie zu optimieren, hat es sich bewährt, das Logopäde und Physiotherapeut eng zusammenarbeiten, um Inhalte und Ziele gemeinsam abzustimmen.
Ein physiologischer Schluckvorgang wird durch Haltungsaufbau, optimale Kopfstellung, Regulierung des Muskeltonus im Schulter, – Nacken, und Halsbereich sowie die Atmung unterstütz. In diesem Bereich gibt es viele Möglichkeiten für den Therapeuten tätig zu werden. Bettlägerige Patiente werden mit Oberkörperhochlage gebettet, damit keine Nahrung oder Speichel aspiriert werden.
Im Verlauf der Erkrankung wird die Nahrungsaufnahme immer schwieriger. Zu diesem Zeitpunkt sollten weiterführende Maßnahmen, wie die Anlage einer PEG-Sonde erwogen werden, um die Folgen einer Mangelernährung zu vermeiden.

Hilfsmittelversorgung

Auf die Versorgung der Patienten mit Hilfsmitteln kann hier nur kurz eingegangen werden. Die Versorgung muss in enger Zusammenarbeit von Patient, Arzt, Therapeut und REHA-Techniker erfolgen. Als günstig hat sich erwiesen, dem Betroffenen das Hilfsmittel vorab leihweise zur Verfügung zu stellen. Es kann dann unter der vorliegenden Wohn- und Alltagssituation getestet werden. In diesem Zusammenhang sei auf das Hilfsmittelberatungszentrum und die mit vielen Hilfsmitteln ausgestatteten Probewohnungen der Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke e.V. in Freiburg verwiesen