15. Internationales ALS/ MND-Symposium in Philadelphia, 2.-4.12.2004

Anfang Dezember trafen sich in Philadelphia die wissenschaftlich und klinisch an ALS Interessierten der Welt beim 15. Internationalen ALS-Symposium. Dieses Treffen wird alljährlich von der britischen Motor Neurone Disease Association, der britischen ALS-Laien-Organisation, veranstaltet. In Anbetracht der oft aufwändigen und langwierigen Forschungsprojekte findet das Treffen relativ häufig statt. Trotzdem wurden auch dieses Jahr wieder viele neue Ergebnisse vorgestellt. Aus meiner Sicht waren die Neuigkeiten aus der Grundlagenforschung und die Bekanntgabe von Ergebnissen von Therapiestudien besonders herausragend.

Grundlagenforschung:

Vascular endothelial grwoth factor (VEGF):
2001 berichteten Oosthuyse et al., dass Mäuse, denen sie genetisch den Gefäßwachstumsfaktor VEGF genommen hatten, unerwarteterweise eine Motoneuronerkrankung (ALS) bekamen. Ziel der Forscher war eigentlich die Entwicklung eines neuen Krebsmedikamentes. Es ist mittlerweile gezeigt worden, dass VEGF über die Förderung neuer Blutgefäße hinaus auch direkt positive Effekte auf Nervenzellen hat. Genetische Studien bei Menschen weisen darauf hin, dass geringe VEGF-Spiegel beim Menschen das Risiko an einer ALS zu erkranken erhöhen. Es konnte gezeigt werden, dass das in einen Botenvirus eingebrachtes und in den Muskel injiziertes VEGF-Gen im Tierversuch die Nervenbahnen und Nervenzellkörper erreichen. Ebenso dringt VEGF nach Injektion in die Hirnkammern in das Gehirn von Ratten ein. Zudem kann durch eine VEGF-Injektion zum Zeitpunkt der ersten Krankheitssymptome das Auftreten weiterer Lähmungen verzögert und das Leben von transgenen ALS-Mäusen verlängert werden. Die normale Wirkung von VEGF, die eventuelle Rolle von VEGF in der ALS-Entstehung und Möglichkeiten eines therapeutischen Einsatzes von VEGF werden intensiv weiter untersucht.

Axonaler Transport:
Bisherige Untersuchungen zur Krankheitsentstehung auf zellulärer Ebene haben sich vielfach mit Veränderungen am Körper der Nervenzellen (Rolle von Überträgerstoffen, Ionenkanälen, Energievorräten) beschäftigt. Zunehmend werden auch Veränderungen des Hauptausläufers der motorischen Nervenzellen (Axon) und der Transport von Zellbestandteilen im Inneren des Axons bei der ALS beschrieben. So konnte in einem Tiermodell (Loa-Maus), eine genetische Veränderung in dem Transporteiweiß Dynein, in einem anderen Tiermodell (mSOD-Maus) ein Defekt im axonalen Transport direkt gezeigt werden. C. Münch aus Ulm zeigte sogar Veränderungen im Gen von Dynactin (einem weiteren Transporteiweiß) bei einigen an ALS erkrankten Menschen. Auch diese Untersuchungen werden intensiv weiter geführt.

Toxine:
Die Frage der Beteiligung von giftigen Nahrungsbestandteilen wurde überraschenderweise neu aufgeworfen. Zur Klärung der besonderen Form der ALS in Guam wurden Spuren des Nervengiftes BMAA gleichsam detektivisch zurückverfolgt. Es kam heraus, dass BMAA zunächst in sehr geringen Mengen von Bakterien hergestellt wird, dann von Zykaden (Pflanze) aufgenommen wird, die Zykaden von „flying foxes“ und die „flying foxes“ von den Ureinwohnern in Guam gegessen werden. Im Verlauf dieser Nahrungskette wird BMAA immer weiter konzentriert. Diese Untersuchungen könnten die „unheimliche“ Häufung der Guam-ALS erklären. Zur großen Überraschung aller wurden im Gewebe von ALS-, aber auch Alzheimer-Patienten aus Nordamerika ebenfalls erhöhte BMAA-Werte festgestellt. Auch bei diesen Untersuchungen könnte man zumindest einem Risikofaktor für die ALS auf die Spur gekommen sein.

Ergebnisse von Therapiestudien

Celecoxib:
Einige Befunde hatten eine positive Wirkung des Schmerzmittel Celcoxib (Celebrex®) und Rofecoxib (Vioxx®) vermuten lassen. Nachdem Refocoxib kürzlich wegen der Zunahme von Schlaganfällen und Herzinfarkten bei Dauereinnahme vom Markt genommen wurde, zeigte die Therapiestudie mit Celecoxib bei ALS-Patienten leider keinen positiven Effekt (Dosis 800mg/Tag, Dauer 12 Monate). Weder die Messung der Armkraft, noch die Bestimmung einer Funktionsskala (ALS-FRS) oder des Lungenvolumens waren bei den mit Celecoxib behandelten besser als bei den mit Placebo (Scheinbehandlung) behandelten Patienten. Ernsthafte Nebenwirkungen, insbesondere Schlaganfälle oder Herzinfarkte traten bei den Studienpatienten nicht auf.

Pentoxiphyllin:
Dieses in der Therapie von Durchblutungsstörungen bereits verwendete Medikament könnte theoretisch ebenfalls positiv auf den Verlauf der ALS einwirken. Bei der nun durchgeführten Studie war es jedoch so, dass die mit Pentoxiphyllin behandelten Patienten sogar einen etwas schlechteren Verlauf ihrer ALS-Erkrankung hatten als die mit Placebo (Scheinbehandlung) behandelten Patienten. Gerade diese Studie war Anlass zu vielen Diskussionen, insbesondere da alle Patienten parallel mit Riluzol (Rilutek®) behandelt wurden und hier auch Wechselwirkungen bedacht werden müssen. Es bestätigt jedoch leider die „Binsenweisheit“, dass jede Teilnahme an einer Therapiestudie neben Hoffnungen auch Risiken birgt.

Coenzym Q10:
Coenzym Q10 ist wie Vitamin E ein Antioxidans, d.h. ein Nahrungsmittelzusatz, der aggressive chemische Verbindungen im Körper unschädlich machen kann. Coenzym Q10 hilft der transgenen ALS-Maus und wird bei der Parkinson-Erkrankung, als auch bei der Alzheimer-Erkrankung derzeit getestet. Bisher hat man die Dosis auf maximal 1200mg pro Tag beschränkt. Nun konnte gezeigt werden, dass auch 3000mg pro Tag gut verträglich sind, aber ab 2400mg pro Tag der Gehalt im Blut nicht weiter ansteigt. Man verglich den Krankheitsverlauf der behandelten ALS-Patienten mit dem Verlauf der Krankheit scheinbehandelter Patienten aus anderen Studien und fand keinen Unterschied. Die angewandte Methode ist jedoch sehr zweifelhaft, sodass der Effekt von hochdosiertem Coenzym Q10 noch nicht beurteilt werden kann.

Tamoxifen:
Dieser Wirkstoff, ein Gegenspieler des Östrogens, wird in der Nachbehandlung von Brustkrebspatientinnen eingesetzt. Ausgehend von einer Patientin mit Brustkrebs und ALS wurde der Effekt von Tamoxifen auf die ALS untersucht. Man wollte in dieser Studie keinem Patienten eine Scheinbehandlung (Placebo) geben. Anstatt dessen verglich man den Verlauf der ALS bei Patienten mit sehr geringen Dosen Tamoxifen mit Patienten mit hohen Dosen und konnte einen statistisch eindeutig besseren Verlauf bei den „Hochdosis“-Patienten zeigen. Da die behandelte Gruppe noch relativ klein war und Tamoxifen prinzipiell erhebliche Nebenwirkungen haben kann, ist derzeit die Einnahme von Tamoxifen jedoch nicht zu empfehlen!

Zuletzt noch ein weiteres Streiflicht, das vielleicht vor allem für Spiegel-Leser interessant sein könnte: Seit einigen Jahren berichtete insbesondere „Der Spiegel“ immer wieder über die Häufung von ALS-Erkrankungen bei italienischen Profi-Fußballspielern. In der Abschlusssitzung des Symposiums wurden von dem Leiter einer aktuellen, wissenschaftlich wertvollen Studie, A. Chio, die Erkenntnisse dargestellt: Tatsächlich sind bei den Profifußballspielern in Italien mehr ALS-Erkrankungen aufgetreten als bei der übrigen Bevölkerung (10-fach erhöhtes Risiko für die Profi-Fußballer). Die Profi-Fußballer erkrankten in jüngerem Alter und hatten häufiger Schluck- und Sprechstörungen als andere ALS-Kranke. Es waren v.a. Mittelfeldspieler und das Risiko stieg mit der Anzahl der aktiven Jahre im Profifußball an. Weshalb diese Häufung auftrat, ist nicht klar. Es wird der Einfluss von häufiger und besonderer körperlicher Belastung, von eventuellem Doping und von Erschütterungen durch Kopfbälle diskutiert. Denkbar wären aber auch ganz andere Ursachen wie z.B. der häufige Kontakt mit Rasendünger. Zuletzt ist auch daran zu denken, ob die Eignung zum Leistungssport als Fußballspieler auf andere Weise parallel zu einer erhöhten ALS-Neigung führen kann.
Diese Daten stellen keine wesentlich beunruhigende Nachricht für Sportler und Hobby-Fußballspieler dar. Selbst bei den Fußball-Profis war die Gefahr an einer ALS zu erkranken absolut gesehen nicht sehr hoch, sie trat lediglich häufiger auf als im Landesdurchschnitt. Durch fehlende körperliche Betätigung sind sicherlich viel mehr Menschen gesundheitlich gefährdet als durch zu viel Sport!

Die Vielzahl der Beiträge, der Hoffnungsschimmer in Bezug auf das Tamoxifen und die vielen neuen Erkenntnisse, die auf dem Symposium vorgestellt wurden, lassen trotz der zum Großteil enttäuschenden Ergebnisse der Therapiestudien weiter hoffnungsvoll in die Zukunft sehen. Eine der vielen Forschungsansätze sollte in nicht zu weiter Ferne einen wirklichen Durchbruch im Verständnis und der Therapie der ALS erbringen.

PD Dr. Martin Hecht
Neurologische Universitätsklinik Erlangen