Bericht vom ALS/MND-Symposium

von Susanne Werkmeister Dipl. Sozialpädagogin (FH)
Deutsche Gesellschaft für Muskelkranke DGM
-Landesverband Bayern e.V.-
Muskelzentrum Erlangen

Eindrücke vom 20. Internationalen ALS/MND-Symposium 4.-10.12.2009 in Berlin

Bei der Vielfalt, die während des Kongresses durch unterschiedliche Themenstränge präsentiert wurde, ist es nur möglich, einen kleinen Teil herauszugreifen.
Ich beschränke mich hier ausschließlich auf den Teil der psychosozialen Versorgung.
Auf der Homepage der Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke www.dgm.org können Interessierte kurze Zusammenfassungen auch von den anderen Themenschwerpunkten nachlesen.
Jedes Jahr treffen sich ALS-Spezialisten aus aller Welt, um Ergebnisse ihrer Arbeit vorzustellen und zu diskutieren. Kliniker und Forscher aber auch nichtärztliche Berufsgruppen wie Physiotherapeuten, Krankenschwestern, Logopäden und Sozialarbeiter, die ALS-Patienten beraten und begleiten, sind regelmäßig vertreten. Über 900 Teilnehmer aus 35 Nationen kamen nach Berlin. Neben dem Gastland, das den Kongress mit ausrichtet, gehört die Motoneuron Disease Association (englische Selbsthilfeorganisation für ALS) in Northampton, Großbritannien zu den Hauptorganisatoren des jährlichen Symposiums. Die MNDA beschäftigt einhundert hauptamtliche Mitarbeiter.
Das Allied Professionals Forum APF fand am 07.12. statt. Dieser Veranstaltungsteil widmet sich dem breiten Spektrum der psychosozialen Versorgung und Begleitung bei ALS.

Allied Professionals Forum

Eine ALS-Ambulanz in den USA setzt Ehrenamtliche ein, um das Team der Ambulanz zu entlasten und den Aufenthalt für Patienten und Angehörige angenehmer zu gestalten.
Ein ehrenamtlicher Koordinator ist Ansprechpartner für die Ehrenamtlichen.
In Australien leben etwa 1.400 ALS-Kranke., in der Region Victoria werden 350 ALS-Patienten betreut. Sehr große räumliche Distanzen stellen dort eine besondere Herausforderung an eine gute interdisziplinäre Versorgung dar. Viele Kontakte zu und zwischen professionellen Helfern im Gesundheitssystem werden über E-Mail und Telefon
geknüpft.
In Japan sind Fragen zur Selbstbestimmung bei Entscheidungen am Lebensende schwierig und kontrovers. Dort werden relativ viele ALS-Patienten beatmet. Die Entscheidung, eine
Beatmung zu beenden, ist in Japan rechtlich nicht gestattet. Viele Patienten äußern jedoch ihrem Arzt gegenüber den Wunsch, die Beatmung einzustellen. Ein japanischer Beitrag untersuchte die Frage der professionellen Integrität und ethische Dilemmata von Neurologen
in diesem Zusammenhang.
Ein Beitrag aus Großbritannien befasste sich damit, ob Willensäußerungen, die in einer speziellen Pflege- und Versorgungsverfügung kund getan werden, den Wunsch nach dem geäußerten Sterbeort beeinflussen können.
Ca. 80% der Befragten äußerten dabei den Wunsch, zuhause sterben zu wollen. Tatsächlich verstarben nur 20-30% daheim. Ein Hauptgrund für diese Diskrepanz lag in einer plötzlichen Verschlechterung des Zustandes. Weitere Untersuchungen sollen klären, wie die Versorgung verbessert werden und dem Wunsch des Sterbeortes entsprochen werden kann.
Zwei Vorträge aus den USA konzentrierten sich auf Fragen rund um die Genetik bei der familiären ALS. Genetische Risiken, eine familiäre ALS weiterzuvererben, werden häufig
falsch eingeschätzt. Ein Informationsmaterial einer ALS-Klinik wurde vorgestellt, das in Gesprächen mit Patienten und Angehörigen, bei denen ein genetisches Risiko besteht, eingesetzt wird.
Bezüglich der präsymptomatischen Testung von Risikopersonen d.h. Durchführung eines Gentests, bevor erste Symptome auftreten, liegen Erfahrungen vor, dass die Mehrzahl der Befragten das Ergebnis des Gentests wissen wollte. Das Angebot besteht in einer Begleitung durch Gespräche und telefonische Beratung.
Besonders angloamerikanische Länder wie Großbritannien, USA, Kanada und Australien waren sehr stark vertreten. Vor allem was den Bereich der interdisziplinären Begleitung und Versorgung von ALS-Patienten anbelangt. Im Unterschied zu Europa beteiligen sich nichtärztliche Berufsgruppen viel intensiver an wissenschaftlicher Forschung auf ihrem jeweiligen Fachgebiet.

Strang: Spirituelle Begleitung und Sinn im Leben
Zwei Beiträge kamen aus dem Interdisziplinären Zentrum für Palliativmedizin in München.
Der erste Beitrag mit dem Titel „Sinn im Leben bei ALS: Empirische Daten und klinische
Bedeutung“ betonte, dass es dabei nicht um den Sinn des Lebens geht. Vielmehr geht es darum, Patienten dabei zu unterstützen, dass sie das, was ihrem Leben Sinn verleiht und für sie bedeutungsvoll ist, behalten bzw. nicht verlieren. Dabei ist, ähnlich wie bei dem Begriff der Lebensqualität, das entscheidend, was jemand für sich als bedeutungsvoll definiert.
Das ist wiederum abhängig von persönlichen Werten.
Es wurde ein spezieller Fragebogen entwickelt (SMILE=schedule for meaning in life evaluation). Gesunde Versuchspersonen, die mit diesem Instrument befragt wurden, nannten
am häufigsten Familie, Arbeit und Freizeit als die für sie bedeutungsvollsten Lebensbereiche.
Gefragt danach, was für sie die stärkste Erfüllung darstelle, nannte die Mehrzahl eine Partnerschaft. Finanzielle Belange wurden von der Mehrzahl als am wenigsten erfüllend betrachtet.
Untersuchungen bei ALS-Patienten ergaben im Vergleich zu Gesunden keine großen Unterschiede. Im Vergleich zu Gesunden wurde die Bedeutung der Partnerschaft jedoch viel wichtiger. Im Unterschied zu Gesunden wurde die Bedeutung der eigenen Gesundheit von den ALS-Betroffenen jedoch als viel unwesentlicher eingeschätzt.
ALS-Kranke unterschieden sich in ihren Antworten nicht zu Krebspatienten, die befragt wurden. Es konnte nachgewiesen werden, dass sich Werte und Konzeptionen im Laufe einer chronischen Erkrankung häufig ändern und damit auch das, was jemand für sich als bedeutungs- und sinnvoll erachtet. Welche Konsequenzen ergeben sich aus der Untersuchung:

  • Partner sollten in alle Behandlung- und Therapieprozesse einbezogen werden. Es sollte jedoch nicht übersehen werden, dass diese selbst stark belastet sind.
  • ALS-Patienten wollen sich häufig aktiver einbringen, etwas nach ihren Fähigkeiten und Möglichkeiten geben. Dies wird oft übersehen.

Der zweite Vortrag trug den Titel „Evidenzbasierte spirituelle Begleitung bei ALS: Wirklichkeit oder Wunsch?“
Als Spiritualität können innere Überzeugungen und Werthaltungen verstanden werden. Spiritualität existiert in allen Kulturen. Sehr wichtig in der Begleitung dabei ist, die Patienten in ihrer eigenen Spiritualität zu begleiten. Auf keinen Fall sollte der Versuch unternommen werden, jemanden verändern zu wollen z.B. in Richtung Glaube und Religiosität. Wichtige Ziele: Entscheidungen des Patienten, wie immer sie ausfallen, zu respektieren und darauf zu achten, dass der Patient Kontrolle und Würde behält.

Spirituelle Begleitung kann und sollte multiprofessionell geschehen, lange bevor der Pfarrer kommt. Sie sollte nicht auf Geistliche beschränkt sein. Dabei ist wichtig, mit den Patienten darüber zu sprechen, ob und mit wem im Team sie über spirituelle Fragen sprechen möchten. Im Team sollte darauf geachtet werden, wer eine besondere Beziehung zum Patienten hat. Dies ist besonders dann von Bedeutung, wenn der stationäre Aufenthalt nur kurz ist.
Gerade dann ist die Netzwerkpflege zwischen stationärer und ambulanter palliativer Versorgung ganz wichtig.
So bunt und vielfältig das Themenspektrum der Vorträge war, so vielfältig fiel die Poster-
präsentation aus, die am 09.12.stattfand. Auch hier wurde deutlich, wie viele Poster nichtärztlicher Berufsgruppen mit zum Teil wissenschaftlichen Fragestellungen zu den Bereichen, interdisziplinäre Versorgung, palliative Pflege, logopädische Therapie und Kommunikation sowie Case Management vertreten waren.

Die Atmosphäre während der Veranstaltung war sehr aufgeschlossen, herzlich und lebendig.
Es tut gut, zu wissen und zu spüren, dass rund um den Erdball Menschen mit den unterschiedlichsten kulturellen Hintergründen unterwegs sind, ALS-Betroffene und ihre Familien zu unterstützen. Das schafft eine unsichtbare Verbundenheit und das Gefühl, dass wir nicht alleine sind! Mitte Dezember 2010 wird das Symposium in Orlando/Florida stattfinden
Susanne Werkmeister