Heimbeatmung von ALS – Patienten

Von Priv. Doz. Dr. med Martin Winterholler, Chefarzt an der Neurologischen Klinik Rummelsberg bei Nürnberg.

Behandlung der Atemmuskelschwäche bei ALS

Historie und Effekte der Heim- und Langzeitbeatmung
Dank des Einsatzes der „eisernen Lunge“ überlebten viele Patienten mit Lähmungen der Atemmuskulatur die Polioepidemien der Nachkriegszeit. Nicht selten blieb den Patienten eine hochgradige Einschränkung der Funktion der Atemmuskulatur, die eine Langzeitbeatmung nötig machte. In Institutionen, selten auch in häuslicher Umgebung kam es so zu ersten Langzeitbeatmungen. Hier wurde ausschließlich Negativdruckbeatmungstechnik eingesetzt. Tankrespiratoren, die seit den 20er Jahren entwickelt wurden und deren Modifikationen nur Teile des Körpers umschlossen (Cuirass; Chest Shell; Pneumobelt) fanden Anwendung.
Die Entwicklung kleiner, leichter und einfach zu bedienender Heimbeatmungsgeräte und von Beatmungsmasken ermöglichte ab Anfang der 90er Jahre eine Beatmung von Patienten mit Lähmungen der Atemmuskulatur zu hause.
Diese „nicht invasive Heimbeatmung“ (NIH) wird in der Zwischenzeit bei einigen Tausend Patienten erfolgreich angewendet. Die Überprüfung der Beatmungsindikation sollte in Muskelzentren, die die Beatmung selbst durchführen oder mit speziellen Lungenkliniken kooperieren, erfolgen.
Während die Heimbeatmung bei wenig fortschreitenden neuromuskulären Erkrankungen ein Standardverfahren geworden ist, stellt die ALS auch erfahrene Neurologen immer wieder vor schwierige Entscheidungen.

Häufigkeit der Atemmuskelschwäche bei der ALS

Lähmungen der Atemmuskulatur treten bei der ALS regelhaft auf, bei 10-20% der Patienten bereits sehr früh im Erkrankungsverlauf. Nächtliche, schlafbezogene Atemstörungen sind unabhängig von der Vitalkapazität häufig. Fast 90% der ALS Patienten versterben an respiratorischen Komplikationen bzw. am Versagen der Atmung. Bei etwa 10% der ALS Patienten besteht bereits bei oder sogar vor Diagnosestellung eine zur Ateminsuffizienz und Beatmungspflicht führende Atemmuskelschwäche.
Bei 60% der ALS Patienten wird die Lähmung der Atemmuskulatur erst nach dem Verlust der Gehfähigkeit im Rahmen der generalisierten Muskelatrophie manifest.

Welche Folgen hat die Atemmuskelschwäche?

Neuromuskuläre Erkrankungen führen aufgrund der Schwäche der Einatemmuskulatur zu einer verminderten Atembreite, einer „restriktiven Ventilationsstörung“ mit niedriger Vital- (VK=atembare Lungenluft) und totaler Lungenkapazität (TK=gesamte Lungenluft).
Die Atmung wird flacher, Kohlendioxid (CO2), das bei allen Stoffwechselvorgängen im Körper entsteht, wird nicht mehr ausreichend abgeatmet.
Darüberhinaus kommt es zunächst im Tief- und Traumschlaf zu einer flacheren Atmung (Hypoventilation), die eine Störung des Nachtschlafes zur Folge hat („Schlaffragmentierung“), erst spät im Erkrankungsverlauf tritt Sauerstoffmangel während des Tages auf.
Bei der klinisch-neurologischen Untersuchung beobachtet man eine flachere, schnellere Atmung, den Einsatz der Atemhilfsmuskulatur am Hals, die sogenannte paradoxe Atmung mit Einziehung des Bauches während der Einatmung.
Der Betroffene berichtet typischerweise über Schlafstörungen, morgendliche Kopfschmerzen, Einschlafneigung am Tage. Hinzu kommen mangelnde Leistungsfähigkeit mit Konzentrationsstörungen, depressive Verstimmungen, Appetitmangel und Gewichtsabnahme. Diese sehr unspezifischen Symptome lassen primär nicht unbedingt an eine Atmungsstörung denken. Luftnot als Hinweis auf ein Atemproblem wird hier seltener genannt.
Chronische „Unterbeatmung“ führt zu Schleimansammlungen mit Verlegung der kleinen Atemwege (Mikroatelektasen) in der Lunge. Es treten gehäuft Infekte auf. Diese Veränderungen, insbesondere die Abnahme der Atemmuskelkraft, führen zu einer Dekompensation der Atempumpe d.h. zur ventilatorischen Ateminsuffizienz mit Hyperkapnie (CO2 Anstieg) und meist nur geringer Hypoxämie (Sauerstoffmangel).

Welche Diagnostik ist sinnvoll?

Alle vorher aufgeführten Veränderungen können frühzeitig gemessen werden, so dass eine Therapieentscheidung fast immer rechtzeitig getroffen werden kann. Dennoch wird die Atemschwäche nicht selten spät erkannt, wenn schon deutliche Beschwerden vorliegen, oftmals erst dann, wenn eine intensivmedizinische Behandlung notwendig geworden ist. Um Atemstörungen rechtzeitig zu erkennen ist deshalb eine regelmäßige Untersuchung der Atemfunktion sinnvoll.
Klniksche Untersuchungen, Lungenfunktionsmessung, Blutgasanalyse und nächtliche Poly(somno)graphie sind hier die wesentlichen Untersuchungen.

a) Lungenfunktionsprüfung
Am einfachsten durchzuführen und nahezu überall verfügbar ist die Spirometrie. Die Messung der Vitalkapazität (Atembreite) stellt einen globalen Parameter für die Atemmuskelfunktion dar. Bei ausgeprägter Atemmuskelschwäche ist sie unter 50% eingeschränkt. Oft ist sie im Sitzen nur geringfügig, im Liegen jedoch stark herabgesetzt.

b) Blutgase, nächtliches Monitoring
Bei noch kompensierter Atempumpstörung wird durch eine Steigerung der Atmung der pCO2 im Normbereich gehalten, eine Hyperkapnie tritt erst bei dekompensierter Störung auf. Da im Schlaf sich die Hypoventilation deutlich verstärkt, ist eine nächtliche Messung zu empfehlen. Oft sind die Werte tags im Wachzustand noch normal, nachts im Schlaf jedoch schon deutlich erhöht. Zur kontinuierlichen Messung eignet sich die Kapnographie oder transkutane pCO2-Registrierung. Die Hyperkapnie wird immer von einer Hypoxämie begleitet, da mit Anstieg des Kohlensäurepartialdruckes der alveoläre Sauerstoffpartialdruck etwas abfällt.
Somit kann indirekt durch nächtliche Oxymetrie (der Untersuchte darf nicht zusätzlichen Sauerstoff zugeführt bekommen) auch auf eine Hypoventilation geschlossen werden; eine Oxymetrie ist einfach durchzuführen.

c) Polysomnograpie (Schlaflaboruntersuchung)
Die Hypoventilation kann zu erheblichen Schlafstörungen führen, deswegen ist zumindest in Einzelfällen eine Polysomnographie angezeigt, auch aus differentialdiagnostischen Gründen.

Voraussetzungen der Heimbeatmung

Jede Beatmung stellt einen medizinischen Eingriff dar, der nur nach ausführlicher Aufklärung erfolgen sollte. ALS Patienten sollten über den gesamten Erkrankungsverlauf einschließlich der Spätphase der Erkrankung mit Abhängigkeit von der Beatmung aufgeklärt werden. Bei der Indikationsstellung sind auch die Persönlichkeit des Patienten, sein allgemeiner Gesundheitszustand und sozialer Hintergrund (Pflegebelastung der Angehörigen) zu berücksichtigen.
Umfangreiche Vorbereitungen sind vor der Heimbeatmung zu treffen, z.B.

  • Sicherstellung eines technischen Support
  • Abschätzung der Pflegebelastung
  • Schulung von Angehörigen und Pflegepersonen
  • Sicherstellung einer professionellen Pflege
  • Klärung der entstehenden Kosten, Planung der Finanzierung der Heimbeatmung
  • Überprüfung der häuslichen (Wohn-)Verhältnisse
  • Verordnung von Hilfsmitteln und Verbrauchsmaterial

Praxis der Heimbeatmung bei der ALS

Nur für einen Teil der ALS Patienten kommt eine Maskenbeatmung in Frage: Bulbärparalyse, Dysphagie, Hypersalivation und Lähmung der Kehlkopfmuskulatur stehen bei etwa 30% der ALS Patienten einer erfolgreichen Applikation der NIV entgegen. Die Aspirationsneigung kann durch die Maskenbeatmung zunehmen.
Zum Überleben mit NIH bei ALS liegen mehrere Fallserien vor.
Die Ergebnisse dieser Untersuchungen lassen sich so zusammenfassen:

  • die nichtinvasive Beatmung ist bei der ALS Betroffenen ohne Lähmung der Schlundmuskulatur (Bulbärparalyse) etwa 1 Jahr, in Ausnahmefällen bis über 2 Jahre möglich. Es ist eine Lebensverlängerung von etwa einem halben Jahr (in Einzelfällen bis zu 2 Jahren) durch die NIB möglich. Nur Bach beschreibt in einer Untersuchung ein mittleres Überleben von über 4 Jahren (1-26 Jahre) bei überwiegend 24-stündiger Abhängigkeit von der Maskenbeatmung.
  • Bei Patienten mit Bulbärparalyse ist mit der nichtinvasiven Beatmung in vielen Fällen eine Linderung der Hypoventilationsbeschwerden möglich. Eine Lebensverlängerung durch die Heimbeatmung ist nur in Einzelfällen zu beobachten.

Wann soll über eine Beatmung entschieden werden?

Bislang ist nicht eindeutig geklärt, zu welchem Zeitpunkt im Erkrankungsverlauf mit einer Beatmung begonnen werden soll. Es besteht jedoch Übereinstimmung, dass eine Beatmungsindikation spätestens beim Auftreten einer Hyperkapnie am Tage, sowie bei erheblicher Hypoventilationssymptomatik und einer VK < 50 % gegeben ist. Es liegen keine Daten vor, die eine spezielle Beatmungsform favorisieren würden. Pragmatisch wird häufig BiPAP der Vorzug gegeben. Besteht Ruhedyspnoe, ist die Adaptation an die Maskenbeatmung oft erschwert. Frühzeitig, d. h. spätestens beim Auftreten erster Symptome einer CVI sollte in einer Spezialambulanz in mehreren Aufklärungsgesprächen mit dem Patienten und seiner Familie der weitere therapeutische Weg – nach Möglichkeit auch schriftlich in Form einer Patientenverfügung festgelegt werden. Dies ist von elementarer Bedeutung, um rechtzeitig die erforderlichen diagnostischen und therapeutischen Optionen nutzen zu können, aber auch um unerwünschte Maßnahmen, wie eine Intubation in der Notfallsituation, zu vermeiden.

Beatmung über Tracheostoma

Eine Beatmung über Tracheostoma ist bei der ALS über viele Jahre möglich. Wir beobachteten bei tracheotomierten Patienten, dass spätestens nach 1-2 Jahren eine Lähmung der gesamten Willkürmuskulatur unter Ausschluss der Augenmuskeln und der periokulären Muskulatur eintrat. Bei 10 – 30 % der Patienten geht nach mehr als 3 Jahren Beatmung auch die Fähigkeit zu zwinkern verloren. Immer wieder kommt es zu unerwarteten Todesfällen, wohl aufgrund einer autonomen Dysregulation. Die Lebensqualität wird von den Patienten in dieser Situation sehr unterschiedlich beurteilt. Die Belastung für die pflegenden Angehörigen ist in der Regel enorm, häufig sind bei den Pflegenden sekundäre körperliche und psychische Reaktionen zu beobachten.

Ein Patiententestament sollte den Beatmungswunsch bzw. die Ablehnung einer Beatmung oder Beatmungsform beinhalten.

Möglichst frühzeitig sollte sich der Patient für eine der drei folgenden Optionen entscheiden:

  • Option 1: Maximaltherapie: Beim Nachweis der CVI und einer entsprechenden subjektiven Symptomatik sollte frühzeitig zunächst mit der NIV begonnen werden. Wenn beim akuten Auftreten einer Atmungsinsuffizienz die NIV ineffektiv ist, wünscht der Patient eine invasive Beatmung. Gelingt die Respiratorentwöhnung nicht mit Maskenbeatmung, will der Patient die invasive Beatmung über eine Tracheotomie fortsetzen.
  • Option 2: Zwar ist NIV zur Therapie der Atmungsinsuffizienz erwünscht; eine Intubation bzw. Tracheotomie wird jedoch abgelehnt.
  • Option 3: Palliativtherapie und Ablehnung jeder Form der Beatmung.